DER SPAZIERGANG
mit Fotograf Vincent Mentzel (73)
„Ich will wissen, was es wirklich ist“
De Wilt hat sich für Collect entschieden (Dezember 2018)
Stapel von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften auf dem Tisch und an allen Wänden im großzügigen Wohnzimmer en Suite – zwischen Fotos und Gemälden seiner Frau, seiner Tochter und Hund Fieb – unzählige Kunstwerke von oft befreundeten Künstlern, von Marlene Dumas, Klaas Gubbels, Karel Appel bis hin zum Werk des Meisterfälschers Geert-Jan Jansen. Vincent Mentzel holt aus einem Schrank eine Champagnerflasche mit Lampenschirm. Auf der Flasche ein Zeitungsbericht mit einem Foto, das Mentzel von der nackt tanzenden Videokünstlerin und Prix-de-Rome-Gewinnerin Ida Lohman gemacht hat. Ein Geschenk des Künstlers selbst, wie so vieles an der Wand und den Schränken. Mentzel fühlt sich unter Künstlern zu Hause: „Ich sitze sehr gerne mit Klaas in seinem Atelier und sehe zu, wie er mit seinen Pinseln herumhantiert. Tatsächlich tun Schriftsteller, Maler, Architekten, Journalisten und Fotografen genau dasselbe: beobachten und dann etwas erschaffen, das nicht gestellt, sondern real ist. Wenn ich jemanden porträtiere, habe ich das Foto gleich am Anfang oder wenn ich mit jemandem eine Stunde gechattet habe. In beiden Fällen ist die Pose weg.'
Schräg vor der Tür steht eine Statue einer riesigen Harley Davidson, das Kunstwerk „Lonely Adventure“ von Maria Roosen
An der Fassade seines geräumigen Hauses am Heemraadssingel hängt eine imposante grün-weiße Flagge der Stadt Rotterdam, gestiftet von Wim Pijbes. Mentzel gehört zu Maasstad, wurde dort aber nicht geboren. „Während des Krieges war mein Vater ein liberaler protestantischer Pastor in Hoogkarspel, einem Dorf in der Nähe von Enkhuizen, und unsere Familie zog einige Male wegen der Kirche nach Naaldwijk, Amsterdam und Dordrecht, wo meine Mutter, eine eingefleischte Feministin, immer noch eine war Mitglied der PvdA im Stadtrat. Meine Eltern hatten in den fünfziger und sechziger Jahren keinen Cent zu verdienen, aber hin und wieder kauften sie ein Kunstwerk. Nach der Schule ging ich auf die Rotterdamer Kunstakademie, weil ich nicht wirklich wusste, was ich werden wollte. Meine Freunde haben Bildhauerei, Malerei oder Grafikdesign gemacht. Ich habe gerne gemalt, aber ich war nicht wirklich gut darin und dann wurde ich vom Platz gestellt.'
freigeistig
Mentzel zieht seine Jeansjacke an und tritt von seinem geräumigen Marmorportal auf den grünen Heemraadssingel, den schicken Kanal, der den raueren Nieuwe Binnenweg kreuzt. Schräg vor der Tür steht eine Statue einer riesigen Harley Davidson, das Kunstwerk „Lonely Adventure“ von Maria Roosen, ein Werk zu Ehren der Rotterdamer Schriftstellerin Anna Blaman, einem Freigeist, der offen über ihre lesbischen Beziehungen schrieb. Nach dem Krieg war sie auf ihrem riesigen Motorrad ein besonderer Blickfang in der Stadt. Mentzel macht sich bereit, auf das große Motorrad zu steigen: „Meine Lehrerin war Maria Austria, so hart wie Blaman. Durch einen Freund, dessen Vater der bekannte Schauspieler Rob de Vries war, wurde ich ihr Assistent. Anderthalb Jahre lang stieg ich frühmorgens in den Zug von Rotterdam zum Willemsparkweg in Amsterdam. Maria war seit den 1950er Jahren Theaterfotografin in den Niederlanden, war aber besonders vom Leben fasziniert. In ihrem Haus traf ich Schriftsteller, Dichter und Schauspieler, die sich von ihr porträtieren ließen. Maria war nicht einfach und irgendwann dachte sie, es sei genug mit mir und ich fing an, bei der Nieuwe Rotterdamsche Courant zu arbeiten. Das war zu einer Zeit, als es in dieser Zeitung nicht mehr als vier Fotos pro Tag gab.'
„Ich erinnere mich, dass Willem-Alexander einmal bei mir zu Hause war und ich ihn gefragt habe, ob er zum Abendessen bleibt. Er musste seine Mutter fragen. Wenn nicht, musste er noch seine Hausaufgaben machen.'
Bei einem Spaziergang entlang des Nieuwe Binnenweg zeigt der Fotograf auf ein paar vertraute Orte: die Konditorei J. van Dijk, das Firmenrestaurant De Pijp, Rotown, einst im Besitz von Fons Burger. Mentzel: „Die Gemeinde versucht seit Jahren, die Straßen mit Fördermitteln zu sanieren. Das gelingt teilweise, aber man sieht auch, dass zwar Fördergelder kommen, aber die Renovierung Jahre auf sich warten lässt.“ An der Kreuzung von Mathenesserlaan und Nieuwe Binnenweg, in der Nähe seines ehemaligen Wohnhauses Jules Deelder, neben dem Café Ari, steht eine stählerne Silhouette des Dichters in der Mitte des Bürgersteigs, nach einem Foto von Lenny Oosterwijk. Freunde haben diese Statue vor einigen Jahren zu seinem 70. Geburtstag aufgestellt. Die dunkle Erscheinung wurde inzwischen von Zahnarzt/Künstler Hans Kleinjan farbig gemalt. Mentzel: „Wenn du nachts hierher gelaufen bist, hast du eine dunkle Silhouette gesehen, als ob Deelder tatsächlich da wäre. Vor langer Zeit, bevor er berühmt wurde, kam er regelmäßig zu mir nach Hause, um sich Bilder anzusehen. War gemütlich.’ Etwas weiter den Binnenweg hinunter, über dem Restaurant Lilith, zeigt Mentzel auf eine Gedichtzeile von Deelder in blauem Neon: „Die Umwelt des Menschen ist der Mitmensch“.
Fleet Street
Auf der Karel Doormanstraat schießt Mentzel nach rechts über die Westblaak in die Hartmanstraat zur Witte de Withstraat. Mentzel: „Das war die Fleet Street von Rotterdam. Um die Ecke waren die Redakteure des Rotterdammer, einer christlichen Zeitung, später des sozialistischen Vrije Volk und später des Rotterdams Dagblad. Auf der anderen Seite war Rotterdams Parool und der Tijd de Maasbode. Ich war beim NRC, etwas weiter weg.' Mentzel betritt den stattlichen Eingang des Nieuw Rotterdams Café. Über der schicken Marmortreppe ist ein Panoramafoto davon zu sehen, wie es einst war, als das NRC dort hergestellt wurde. „Im selben Gebäude war oben das Algemeen Dagblad und unten die Druckerei. Ich blickte auf das Café de Schouw, die Kneipe, in der sich Journalisten und Fotografen bis in die späten Stunden versammelten.“
Mentzel überquert die Rochussenstraat, um auf die Stolpersteine vor dem Haus hinzuweisen, in dem Abraham Tuschinski und seine Frau 1942 aufgegriffen und schließlich in Auschwitz ermordet wurden.
Auf dem Heimweg berührt der Fotograf das Bild des Porträts, das der damals 73-jährige Picasso von der zwanzigjährigen Sylvette, seiner Muse, gemacht hat. Der Künstler Carl Nesjar fertigte daraus eine Skulptur aus gegossenem Beton mit schwarzen Kieselsteinen. Mentzel überquert die Rochussenstraat, um auf die Stolpersteine vor dem Haus hinzuweisen, in dem Abraham Tuschinski und seine Frau 1942 aufgegriffen und schließlich in Auschwitz ermordet wurden. „Ich bin im Straßenbenennungsausschuss der Stadt Rotterdam und wir haben gerade festgestellt, dass in seinem Rotterdam eine Straße nach ihm benannt ist. Wer weiß, dass der Kinobetreiber kein Amsterdamer, sondern ein Rotterdamer war?'
Kurz vor seinem Haus stellt der Fotograf fest: „Ich bin immer neugierig auf Menschen. Wenn ich irgendwo ein Portrait mache, komme ich nie mit dem Gedanken rein: Das ist ein nerviger oder netter Mensch und ich werde ihn als nervig oder nett darstellen. Ich will wissen, was wirklich los ist. Ich habe zum Beispiel eine instinktive Abneigung gegen einen Jungen wie Thierry Baudet, aber genau deshalb würde ich gerne in seine Seele schauen. Was bewegt einen so ordentlichen, schülerhaften Jungen dazu, so seltsam zu reden? Ich habe eine gute Beziehung zu vielen Menschen aufgebaut, die ich regelmäßig fotografiert habe: von Lubbers bis Den Uyl und von Künstlern bis zur Queen. Prinzessin Beatrix ließ mich einmal von einem ihrer Leute aus einer Gruppe von Journalisten auswählen. Sie interessierte sich für den Mann, der diese Fotos im NRC gemacht hatte. Ich durfte einige Male Staatsfotos von ihr machen, eines als Bild auf der holländischen Münze und eines für den „gepunkteten“ Stempel. Ich erinnere mich, dass Willem-Alexander einmal bei mir zu Hause war und ich ihn fragte, ob er zum Abendessen bleiben würde. Er musste seine Mutter fragen. Wenn nicht, musste er noch seine Hausaufgaben machen.'
Vincent Mentzel vor seinem Haus am Heemraadsingel
Fieb.
In der Nähe seines ehemaligen Wohnhauses von Jules Deelder, neben dem Café Ari, steht mitten auf dem Bürgersteig eine stählerne Silhouette des Dichters, nach einem Foto von Lenny Oosterwijk.
Die Stolpersteine vor dem Haus, in dem Abraham Tuschinski und seine Frau 1942 aufgegriffen und schließlich in Auschwitz ermordet wurden.
„Das war Rotterdams Fleet Street. Um die Ecke waren die Redakteure des Rotterdammer, einer christlichen Zeitung, später des sozialistischen Vrije Volk und später des Rotterdams Dagblad. Auf der anderen Seite war Rotterdams Parool und Tijd de Maasbode.'
Schräg vor der Tür steht eine Statue einer riesigen Harley Davidson, das Kunstwerk „Lonely Adventure“ von Maria Roosen, ein Werk zu Ehren der Rotterdamer Schriftstellerin Anna Blaman.